Am Dienstag, den 07.05.19, kam der Autor der Abitur-Lektüre „Vor dem Fest“, Saša Stanišić, ans Lerchenfeld, um sich mit den Schülerinnen und Schülern des Jahrgangs 11 über sein Werk zu unterhalten und das ihm zu lesen. Der folgende Bericht einer Schülerin reflektiert die Atmosphäre der Lesung sowie den Stil des Buches:
Und Saša Stanišić, Geflüchteter, Vater, Autor und (reicht das nicht?) Medizinstudent, für die, die ihn schreibend in der Bibliothek des UKE antreffen, steht. Steht und redet mit zwei Schülern. Und ist tatsächlich einfach nur ein Mensch. (Bei einem lebenden Abi-Lektüre-Autor hatte man das gar nicht glauben können). Ich setzte mich hin, zweite Reihe, klar. In meiner Hand die Nacht vor dem Fest. Seine Nacht. Vorne auf einem Podest stehen zwei Sofas und ein kleiner Tisch. In dem Wasserglas auf dem Tisch ist noch kein Wasser. Sogar Zimmerpflanzen. Zimmerpflanzen, das bedeutet Saša ist dem Lerchenfeld wichtig. Das Lerchenfeld braucht Saša. Ich brauche Saša. Weil die Nacht in meiner Hand, seine Nacht, schon ganz schön schwer ist. Saša sitzt. Ein ganzes Sofa nur für ihn, so ein Gast ist das. Auf der anderen Seite sitzen Paula und Enzo. Du machst die erste Frage, ne? Ja. Weißt du, wann es losgeht? Enzo räuspert sich. Jetzt. Es geht jetzt los.
„Wir freuen uns sehr, dich heute am Lerchenfeld begrüßen zu dürfen, Saša, und bevor wir mit den ersten Fragen einsteigen, möchte ich dich gerne bitten, dich einmal vorzustellen.“
Saša nimmt das Mikro in die Hand, beugt sich vor, stellt sich nicht vor. Wenn du Saša kennst, dann weißt du das auch. Nicht persönlich kennst. Auch nicht unpersönlich. Du weißt das, wenn du dir schonmal eine Lesung von ihm auf YouTube angeschaut hast und wenn er sich da auch nicht vorgestellt hat und weil, wenn du recht überlegst, du dich auch nicht gerne vorstellst. Sich selbst kennt man ja. Saša beugt sich immer noch vor.
„Ich hab am 30. April Deutsch-Abi geschrieben. Also nochmal. So richtig mit Handkrampf und allem“, sagt Saša. Handkrampf, denke ich, kenne ich.
„Ich bin heute nur für euch da. Keine Agenda. Ich weiß, „Vor dem Fest“ ist eine schwere Lektüre. Es war auch schwer zu schreiben. Aber ich bin heute hier, um euch hoffentlich beim Verstehen zu helfen.“ Er lehnt sich zurück und schaut Paula und Enzo aufmerksam an.
Wie er zum Schreiben gekommen sei.
Es trug sich zu, dass ein kleiner Junge, der Saša hieß, in den 80er-Jahren lieber in der Schublade im Sofa seiner Großeltern lag, die bis zum Rand mit Büchern gefüllt war, und Fantasy-Romane las, als draußen zu spielen. Uns interessiert historisch nicht, in welchem Jahr Saša aus Višegrad fliehen musste. Uns interessiert historisch, warum Saša heute im UKE schreibt und nicht in der Schublade seines Sofas. Uns interessiert historisch, warum er über ein Dorf in der Uckermarck schreibt und nicht über Drachen und Zauberer.
Von der Pinnwand neben dem Podest löst sich „Schramm: Ein Manne mit einer Lunge so schwarz, wie sein Arbeitsplatz“
Paula fragt: „Haben sie eine Lieblingsfigur? Wenn ja, wen?“
Saša guckt zur Pinnwand. An der Pinnwand hängt ein Bild von Schramm. Julia hat das gemalt.
„Tja da liegt ihr schon ganz richtig“, sagt Saša, „die Figur, mit der ich am meisten Spaß hatte, war tatsächlich Herr Schramm. Das ist so ein unglaublich ambivalenter Typ. Eigentlich schon aufgegeben und doch will der irgendwie Anna noch weiterhelfen. Zigarettenautomaten erschießen aus Stolz. Sowas. Tolles Bild auch! Von wem ist das?“
Julia meldet sich.
„Toll, echt. Das ist jetzt mein Herr Schramm.“
Julia: „Danke!“
Erste Lesung. Annas letzte Nacht, seifiger Zaun, Stirnlampe, Feld. Sowas. Rhythmus. Die Nacht in meiner Hand bewegt sich auf einmal. Saša bewegt sich auch. Kann nicht anders. Dirigiert seine Stimme durch den Text, dirigiert uns durch Annas Nacht. Roman wird zu Poesie, frage mich, ob ich in der Schule oder beim poetry slam sitze. Sitze. Genieße. Höre HipHop, höre Schramm schrammen, höre Q und Henry beim Rappen zu, doch das auf Worte kein Verlass sein soll, lässt mir keine Ruh.
Saša beugt sich vor.
Fragerunde zwei. Das Lerchenfeld spitzt die Ohren. Sašas Miene leuchtet heller als der Trainingsanzug des Adidas-Manns. Saša richtet sich auf und deckt auf. Q und Henry sind Wiedergänger von Kuno und Hinnerk, den Adidas-Mann gibt es wirklich, Puddingbrezel und O-Saft sind das beste, was man in deutschen Bäckereien essen kann, der Fährmann hat eine mythologische Bedeutung, das Außen und das Innen. Die Nacht in meiner Hand wird immer leichter.
Dann Lesung 2. Das Lerchenfeld lauscht nicht angestrengt. Uns interessiert historisch, warum wir das Buch vorher nicht verstanden haben. Uns interessiert das Andersmachen.
Saša sagt, das Buch gehöre uns. Das finde ich gut. Offene Fragerunde.
Ob man Inspiration suchen kann und wenn ja, wo? Saša beugt sich vor. Beugt sich in meine Richtung vor. Er sagt: „Inspiration kommt von Innen. Du findest etwas, worüber du schreiben möchtest und dann suchst du nach Wissen.“ Er nimmt sich Zeit für seine Antwort. Das finde ich gut. Er möchte wissen, ob ich schreibe. Ich nicke. Er lächelt.
Nächste Frage. Nein, es gibt nicht so viele autobiografische Elemente in „Vor dem Fest“. Habt ihr über das Kesselflicker-Kapitel schon im Unterricht gesprochen? Erzählungen aus Fürstenwerder.
Das Lerchenfeld bedankt sich bei Saša. Das Wasserglas ist wieder leer. An der Pinnwand hängt nur noch ein Spruch. Aber Zimmerpflanzen. Saša steht wieder und redet. Ich lasse die Nacht vor dem Fest in meinem Rucksack verschwinden. Sie ist jetzt schon gar nicht mehr so schwer. Ich gehe, ohne mit Stanišić persönlich gesprochen zu haben. So im Stehen halt und nicht durch ein Mikro. Und wer mich kennt, der weiß das auch. Wer mich kennt, der weiß, dass mir erst später die wirklich guten Fragen einfallen. Auf dem Weg nach Hause fallen mir aber keine Fragen ein. Mir fallen Geschichten ein. Und mich interessiert historisch, was aus ihnen werden wird.
Ein ganz ganz großes Dankeschön an Paula und Enzo, die den Vormittag so souverän geleitet und keine Befragung, sondern ein Gespräch auf die Bühne gebracht haben.
Auch ganz lieben Dank an das restliche Vorbereitungsteam, das sich den Kopf über geistreiche und sinnvolle Fragen zerbrochen hat (es hat sich gelohnt!), an Frau Hebekus, die die Lesung organisiert hat, das Technikteam für die Zimmerpflanzen und noch viel mehr und natürlich an Saša Stanišić, ohne dessen authentischen, super sympathischen Auftritt das Lerchenfeld in der Nacht vor dem Fest noch immer ziemlich im Dunkeln tappen würde und ohne den ich nie die Idee gehabt hätte, diesen Artikel zu schreiben.
Ein Text von Jordis (S2) aus dem Webteam